WARUM BIENEN IM WINTER NICHT FLIEGEN von Melina Schwendler
Eine Fabel.
„Und ich flieg, flieg, flieg wie ein Flieger…“ – immer diese dummen Karaoke-Bars. Ich müsste dem betrunkenen Idioten da oben mal erklären, dass er eine Biene und kein Flieger ist. Scheint wohl zu viel vergorenen Honig getrunken zu haben. Ich habe auf jeden Fall genug. Genug von diesem Stock, genug vom Winter und genug von diesem gottverdammten Lied. Aber laut der Königin sollen wir nur schlafen… 3 MONATE LANG.
Inzwischen fällt mir hier echt die Decke auf den Kopf. Was die großen stehenden Würmer wohl machen? Ich kann doch nachschauen gehen, wer soll mich denn davon abhalten? Diese Wachbienen passen sowieso nie auf, egal ob Winter oder nicht. Trotzdem muss ich vorsichtig sein. Ich bin der Schatten und der Schatten bin ich. Eine wahre Ninja-Biene. Niemand wird jemals merken, dass ich fehle. Jetzt schnell! Abflug… und ich bin draußen.
Die Welt ist so schön weiß. Wie ich sie vermisst habe. Eine willkommene Abwechslung nach dem düsteren gelblichen Ambiente des Stocks. Vor allem dieser große Platz, der sonst immer grau und leer war… nun ist er hell erleuchtet und strahlt in den Farben eines Hagebuttenstrauchs. Überall sind diese komischen Würmer… haben die das hier gebaut? Und da vorne steht eine riesige Blume. Boah ist die schön! Die ist so gigantisch, von ihrem Nektar könnten sich die nächsten fünf Generationen ernähren. Wenn ich den zurück zum Stock bringe, wäre ich eine Heldin. Nein, besser sogar: ich wäre die neue Königin. Nichts wie hin. Aber Moment mal… warum ändert sie ihre Farben und warum dreht sie sich? Und was sind das für komische Auswüchse an den Blütenblättern, in welchen die großen Würmer sitzen? Das sieht nicht gesund aus… Moment mal. Das ist ja gar keine Blume! Ich weiß nicht, was es ist, aber ich glaube, es gibt keinen Nektar. Das war’s dann wohl mit meiner Heldengeschichte. Schade…
Anscheinend ist das ein anderes Konstrukt dieser Würmer. Warum imitieren die immer unsere wunderschöne Natur? Trotzdem ist es hier einfach bezaubernd, auch mit den eigenartigen Holzbauten. Ich weiß gar nicht, warum wir den Stock nicht verlassen dürfen. Die alte königliche Schrulle ist einfach verbittert und dement. Die Welt ist großartig, auch ohne Blumen. Dafür gibt es ganz andere Leckereien. Diese goldbraunen, klebrigen Haufen, welche die Würmer essen zum Beispiel. Die sehen echt lecker aus. Ich nehme davon ein paar mit. Die machen mich vielleicht nicht zum Helden, aber angenehm schmecken werden sie allemal. Und sie zeigen der Königin, dass der Winter nicht gefährlich, sondern einfach nur herrlich ist.
Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, die Brocken zu transportieren. Oh heilige Sonnenblume, die sind aber schwer… Vielleicht sollte ich einfach ein paar hier essen, die anderen können ja auch mal deren stacheligen Bienenhintern aus dem Stock bewegen. Außerdem muss ich erstmal probieren… Die liegen auch schon so reizend da. Das ist ja eine wahre Essenseinladung. Das einzige Unappetitliche hier ist dieser Wurm. Was will der denn von mir? Warum fuchtelst du so mit deinen komischen Gliedmaßen? Das sind meine Brocken, ich habe sie zuerst gesehen! Glaubst du mir nicht? Na warte, dir werde ich es zeigen!
Haha, das ist ein Stich, den du so schnell nicht wieder vergessen wirst! Ich gehe nach Hause und hole meine Brüder! Und dann hast du ein richtiges Problem. Niemand legt sich mit mir an, wenn es um Essen geht. Zurück zum Stock, da weiß ich schon genau, wen ich hole. Morgen komme ich mit Biff und Stefan wieder, den stacheligsten Bienen im Stock. Dann wirst du dein stacheliges Wunder erleben.
Davor muss ich aber erstmal ausruhen. Dieser Ausflug war anstrengender als gedacht. Auf nach Hause. Wenn ich der Königin von meinen Abenteuern erzähle, werden ganz bestimmt alle Einschränkungen aufgehoben. Und dann wären wir endlich wieder frei.
War ich eigentlich schon immer so schwer oder bin ich einfach nur aus der Übung? Vorher kam mir das Fliegen nie so anstrengend vor. Diese Zeit ohne Sport tut mir echt nicht gut. Oh Gott Hilfe, meine Flügel reagieren nicht! Mayday! MAYDAY!! Ich stürze ab!!! Warum hilft mir denn keiner…. AHHHHHHHH!!!
Weich, aber nass gelandet, in diesem roten, stechend riechenden Gewässer. Irgendwie eklig… Es ist aber angenehm warm… Gleich fliege ich zurück… ganz ganz gleich. Ich will nur ein paar Momente meine Augen schließen… dann hole ich meine Brüder…. und dann können wir alle frei sein…
„Ihhh, da ist eine Biene in meinem Glühwein!“ – „Ach Quatsch, die schlafen doch alle. Fisch‘ sie einfach raus und beeil‘ dich. Die Schlange beim Riesenrad ist gerade sehr kurz, und ich will heute noch fahren!“
Melina Schwendler