MORGENSTUNDEN von Clara Wiesmann
Als sie die Augen öffnete, spürte sie die Schwere des vorherigen Tages auf ihren Augenlidern. Sie konnte nicht aufstehen, sie lag einfach regungslos auf ihrem Bett, ihr Körper fühlte sie an wie Beton. So starrte sie neben sich aus dem Fenster, der Tau glänzte in der Morgensonne und hatte etwas Magisches an sich. Aus dem Radio ertönte eine Melodie, die ihr merkwürdig bekannt vorkam. Sie erinnerte sie an die Zeit von damals, an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Mutter zusammen in der Küche stand und Mittagessen kochte. Es war das Lieblingslied ihrer Mutter. Sie tanzten zusammen umher und sangen dabei so laut es nur ging. Als sie sich an diese Zeit erinnerte, musste sie lächeln. Es waren die schönsten Zeiten, die sie bisher kennengelernt hatte. Doch sie waren lang her, mit ihrer Mutter hatte sie schon seit Jahren nicht mehr geredet. Wegen irgendeiner Nichtigkeit gingen sie damals im Streit auseinander, sie kann sich nicht einmal erinnern, was es war. Ihr kamen die Tränen hoch, warum nur hatte sie die enge Bindung zu ihrer Mutter einfach so weggeworfen? Sie war eben ein Sturkopf, genau wie ihre Mutter, doch sollte sie wirklich so weiter machen, nur um ihren Stolz zu bewahren? In diesem Moment fühlte sich ihrer Körper so leicht wie nie an und sie sprang förmlich aus dem Bett. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte zum Telefon. Ihr war alles egal, sie wollte nur die Stimme ihrer Mutter nach so langer Zeit wieder hören. Die Nummer konnte sie nach all den Jahren noch auswendig. Es klingelte und dann, da war sie zu hören, die liebliche Stimme von damals, die mit Freudentränen durch das Telefon drang. Dies war einer der schönsten Momente seit langem, wahrscheinlich noch besser als die Erinnerungen von damals. Es war ein guter Tag.
Clara Wiesmann