GEDANKENSCHIMMER IM SYSTEM von Joshua Nerling

GEDANKENSCHIMMER IM SYSTEM von Joshua Nerling

Ich schaue aus dem Fenster. An der Tafel steht der Lehrer und erklärt die wohl wichtigsten Dinge unseres Lebens – doch ich höre nicht zu. Meine
Gedanken schweifen ab und in meinem Kopf befindet sich ein Gemisch aus aufbrausenden, wie kühle Winde wirkende Fragen: Wie? Warum? Doch
so sehr ich auch darüber nachdenke, ich finde keine Antworten.


„Herr Nerling, können Sie das wiederholen?“ Ich bemerke sie nicht. Erst als mich mein Sitznachbar antippt, realisiere ich, dass sie zu mir sprach. Ich entgegne nichts. Genervt von meinem starren Blick führt sie das Thema fort. Ich kehre zurück in meine Gedanken und fixiere ein durch den kalten Wind tanzendes Blatt. Vom Tau funkelnd scheint es gelb, fast schon golden. Warum zeigte die Lehrerin keine Reaktion? Jeder andere Lehrer hätte mich vorgeholt oder mir eine Note gegeben, doch nicht sie. Was führt Menschen zu einer Reaktion? Welche Verknüpfungen führen zu ihren Gedankengängen? Und schon wieder quälen mich dieselben Fragen … Wie? Warum? Das Blatt sinkt zu Boden, bis es still liegen bleibt. Subjektivität. Ein Mysterium und trotz dessen die Realität. Die uns umgebende Welt. Das System. Entscheidungen scheinen von außen fast schon willkürlich. Getrieben von Emotionen und kürzlich widerfahrenen Ereignissen handelt ein jeder verschieden. So differenziert und doch gleich.
Kontrollieren verschiedene Lehrer einen Interpretationsaufsatz, ist ein Aufsatz nicht gleich ein Aufsatz. Wer entscheidet über die endgültig richtige Korrektur? Selbst die Entscheidung zwischen den verschiedenen Bewertungen basiert auf Subjektivität. Diese endlose Schleife führt letzten Endes weder in Gerechtigkeit noch in Verständlichkeit.


Und doch. Welche Alternative gibt es? Subjektivität ist grundlegend nichts Schlechtes. Persönlich wäre ich ohne die subjektive Einschätzung meines
Philosophielehrers nicht mehr dazu in der Lage, zu promovieren. Aber die Arbeiten in dem einen Jahr waren auch schwer… und wieder – meine
persönliche Einschätzung. Objektivität ist demnach auch nicht immer die Lösung und kann es auch nicht sein. Eine Welt, bestehend aus Objektivität
wäre nichts als kahl und emotionslos. Den glänzenden Schimmer von Freude und Glück kann nur jeder persönlich auf unterschiedliche Art und Weise erfahren. Und wieder – die ersehnte Antwort existiert nicht.


Das war er – mein Gedankenschimmer im System.

Joshua Nerling